Ferdinand Kinsky, geb. 1934, gest. 2020 – ein Nachruf
(English translation below)

Ferdinand Graf Kinsky, 1934 geboren, Generaldirektor des CIFE von 1977 bis 2002 – eine prägende Persönlichkeit für unser Institut, der erste Nachfolger des Gründervaters, Alexandre Marc – ist am 22. November 2020 im Alter von 86 Jahren in Wien gestorben. 

Ferdinand Graf Kinsky – aber er verzichtete leichthin darauf, den Adelstitel zu führen: Er bedurfte des Titels nicht, er war Persönlichkeit genug, um als solche, und unverstellt durch irgendwelche Titel, Respekt und Sympathie zu wecken. Dabei war seine Herkunft aus einer der großen österreichisch-habsburgischen, genauer gesagt: böhmischen aristokratischen Familien durchaus prägend für ihn. Geboren in Prag, aufgewachsen auf den ausgedehnten Gütern seiner Familie in der böhmischen Kleinstadt Horazdovice, wurde er mitsamt Eltern und Geschwistern noch vor Kriegsende enteignet und vertrieben, auch wenn sein Vater bekanntermaßen ein entschiedener Gegner der Nazis war.
Bayern wurde die Ersatzheimat für die Familie, bis Ferdinand Kinsky, gemeinsam mit seiner Gattin Hedwig (die ihrerseits aus einem ebenso ruhmreichen schlesischen Adelsgeschlecht stammt) seine Lebensaufgabe beim CIFE fand. 

Aber der Weg dorthin war weit und lehrreich, er führte über einen langen Aufenthalt in England, der den jungen Ferdinand lehrte, was es heißt, auf dem Lande Handarbeit zu leisten, und zwar als Letzter und Jüngster in einem Team, das alles andere als kultivierte Umgangsformen gewohnt war. Auch eine Karriere als professioneller Eishockeyspieler fasste Ferdinand – ernsthaft? – ins Auge. Aber schließlich setzte sich seine Berufung durch und wurde zu seinem Beruf: Das schuldete er dem Charisma Alexandre Marcs, dem er zum ersten Mal bei einem Winterseminar begegnete, das er eigentlich besucht hatte, um in den französischen Alpen Gelegenheit zum Skifahren zu haben – sportlich blieb Ferdinand bis an sein Lebensende. Das Seminar aber, und die Begegnung mit dem Gründer des CIFE, wurde zu einer Weichenstellung für sein Leben.

Ferdinand Kinsky in Aktion - die Studierenden erinnern ihn als begnadeten Redner.

 

 

Alexandre Marc überzeugte ihn von seiner Vision eines menschenwürdigen Daseins, als Individuum und als Mitglied in einer Gesellschaft, die manches gemeinsam haben mochte mit den Traditionen eines multinationalen Habsburgerreiches, in dem viele Völker, Sprachgruppen, lokale, regionale und nationale Identitäten nebeneinander leben durften – kein Idealfall, sicher, aber doch eine Alternative zu dem aggressiven, extremistischen Nationalismus der ersten Jahrhunderthälfte. Einheit in der Vielfalt, Individualität bei vollem Respekt für die vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten, von der Familie angefangen, endend in der übernationalen europäischen Gemeinschaft, und darüber hinaus in der humanen, vielleicht auch christlich-katholischen Weltgemeinschaft – eine solche Gestalt menschlicher Existenz entsprach voll und ganz Ferdinand Kinskys eigenen, ererbten, von ihm aber modern interpretierten Überzeugungen und wurde in ähnlicher, systematischer Weise von Alexandre Marc gelehrt und, mehr noch: gelebt.

Das überzeugte Ferdinand letztendlich am meisten – die Bereitschaft, für die eigenen Überzeugungen einzustehen und sie damit zu beglaubigen. Im Studium der Soziologie, am damaligen „hotspot“ deutscher Sozialwissenschaft, in Frankfurt, hatte er genügend Gelegenheit gehabt, hochtrabend vorgetragene, revolutionäre, ethisch anspruchsvolle Gesellschaftsprojekte und philosophische Visionen kennenzulernen, vor allem bei Theodor W. Adorno; aber der schien im gerade nicht bereit zu sein, seinen Vortrag auch zu leben. 

Ferdinand Kinsky in Wien, wo er mit dem Figlhaus Wien den "CIFE Lehrgang Europa" ins Leben rief. Im Bild neben ihm Helgard Fröhlich, damalige Bürleiterin des CIFE in Berlin, und Otto Neubauer, Leiter des Figlhauses.

Das war bei Alexandre Marc anders, und so begab sich Ferdinand Kinsky auf den Weg zu dessen Nachfolge als Sachwalter des personalistischen Föderalismus. Dieser Begriff erfasst wohl am besten, was Kinsky mit Marc gemeinsam hatte und wo doch beide unterschiedliche Akzente setzten. Kinsky war nicht bloß der Traditionsbewahrer – Marcs Erfahrung, Herkunft und Impetus lagen auf der „revolutionären“ Umgestaltung der europäischen Gesellschaften, mit einer manchmal geradezu manischen Radikalität, die Ferdinand Kinsky fremd war. Ihm ging es um die Förderung einer Lebenswirklichkeit, die der menschlichen „Person“ zur Selbstverwirklichung verhelfen sollte, der „Person“ im bedeutungsvollen Sinne des Wortes, als eines durch seine Individualität ebenso sehr wie durch seine Zugehörigkeit zu anderen Menschen, zu gesellschaftlichen Gruppen bestimmten Wesens. Das war im Einklang mit der katholischen Soziallehre möglich, im Einklang mit Kinskys transnationalen Bezügen, im Einklang mit seiner europäischen Kultiviertheit.

Im CIFE fand Ferdinand Kinsky den Resonanzboden, den Rahmen, in dem er sein berufliches Leben ohne Rückstände zugunsten eines solchen Projekts einer europäischen, personalistisch-föderalistischen Gemeinschaft einsetzen konnte. Und das tat er mit all seinen Talenten, mit Klugheit und Überzeugungskraft, mit Zugewandtheit und Tatkraft, mit Offenheit für Andere und für Neues, mit diplomatischem Geschick und mit dem Durchsetzungswillen eines Lobbyisten. Über ein Vierteljahrhundert prägte er das CIFE, erhielt es lebendig und erneuerte es, überstand Krisen und legte den Grund für seine heutige (relative) Sicherheit. Alexandre Marc war in seinen späten Jahren überzeugt, dass niemand anders das CIFE über die Zeit hätte erhalten können, über eine Zeit, in der „Föderalismus“ in Frankreich noch ein Unwort und ein Institut, das sich dieser Doktrin verschrieb, eigentlich persona non grata war.

Gegen solche Widerstände führte Kinsky das damals neue Format von Sommerakademien ein und vervielfältigte damit die Reichweite des CIFE, er internationalisierte das bis dahin überwiegend französische Institut, er stellte den regelmäßigen, intensiven Kontakt zum Brüsseler EU-„Milieu“ her und pflegte Verkehr und Kommunikation mit der europapolitischen Praxis ebenso wie mit der Welt der Wirtschaft – alles zum Wohle des CIFE und zur Sicherung seiner Existenz, alles dies aber auch immer mit dem Sinn der Sache fest im Blick: „Welche Gesellschaft, welches Europa wollen wir?“, das war ein Standardthema seiner Abschlussvorträge bei Seminaren und Sommerakademien. Aber die akademische Qualität seiner Publikationen ließ keinen Zweifel daran, dass Ferdinand Kinsky sich selbst dem Anspruch aussetzte, wissenschaftlich zu denken, zu lehren und zu publizieren. Zahlreiche Bücher und Aufsätze, viele davon in „L’Europe en formation“, der Hauszeitschrift des CIFE, zeugen von der Einlösung dieses Anspruchs und trugen ihm internationale Anerkennung als Professor im interdisziplinären Feld von Sozial- und Politikwissenschaft ein.

Mit alledem verkörperte Ferdinand Kinsky seine eigenen Überzeugungen von einer menschenwürdigen Existenz; er war eine europäische Persönlichkeit von eigenem Rang, hielt jeden Vergleich mit den „Großen“ seiner Zeit aus und war auf der anderen Seite für jedermann zugänglich, jedermann zugewandt, für niemanden unerreichbar. In diesem Sinne war er selbst, über seine personalistisch-föderalistische Botschaft hinaus, ein Leitbild für eine ganze Generation.
 

Hartmut Marhold, ehemaliger Generaldirektor des CIFE
Berlin, im November 2020

Die CIFE-Sommerakademie in Aosta. Rechts oben Ferdinand Kinsky, in der Mitte, sitzend, Alexandre Marc.

Der CIFE-Lehrkörper und Studierende vor dem Palais de Marbre, damaliger Sitz des CIFE. Ferdinand Kinsky vorne rechts


In memory of Ferdinand Kinsky

It is with great sadness that we inform you of the death of our friend Ferdinand Kinsky on Sunday 22 November in Vienna (Austria) as a result of Covid-19.

After studying political science and sociology at the University of Munich and the University of Frankfurt (where he had been a student of Adorno, of which he was very proud), Ferdinand joined CIFE in 1964 following a meeting with Alexandre Marc during a European training course organised by the latter. The following year, he moved to Nice, where the Institut européen des hautes études internationales had just been created, and where he would be one of the regular teachers and main instructors until his retirement. Invited in 1969 as an associate professor at the University of Indiana, he returned to take up a post as director general of CIFE, at the request of Alexandre Marc, who had chosen him as his successor. In this position, which he held for almost a quarter of a century, he worked tirelessly to develop CIFE and to consolidate the natural links established with the European institutions since the origins of the organisation in 1954. In particular, he sought to strengthen cooperation with Germany and to bring CIFE into the restricted circle of higher education institutions recognised by Brussels and as such regularly supported by the European Commission. During this period marked by the great events of the collapse of Soviet communism, the fall of the Berlin Wall and the liberation of Central and Eastern European countries, he was very pleased to be able to return to the Czech Republic and to Horazd’ovice, the birthplace of his family and where he was born. Appointed as a professor at the Central European University in Prague, he nevertheless continued to hold his position at the head of CIFE and to teach there, focusing on European integration and personalistic federalism.

But Ferdinand was much more than a responsible leader and a listened-to teacher, and friendship now prescribes paying homage to the man he was, or more precisely, the person he strove to become throughout his life.
Ferdinand was European and a federalist.
He was a convinced European and the many books and articles he wrote about the adventures of European unity still be built bear abundant witness to this.
But, above all, he was constitutionally convinced.

Ferdinand, Count Kinsky von Wchinitz und Tettau, was an aristocrat. And of the highest and oldest lineage. His nobility dates back to the dawn of time and his family, from the 12th century onwards, has left its mark on European history, from the Bohemian Kingdom to the Austro-Hungarian Empire and the Holy Roman Empire. Politically first, but also culturally, and he liked to recall that his family had been Beethoven’s protector or that his grandmother, Bertha von Suttner, née Kinsky, had been the first female Nobel Peace Prize winner. It was difficult with such heredity not to advocate a unity, whose long theory had been witnessed and acted upon by previous generations. But to this decisive heritage, the tragedies of the 20th century were to bring the verification of a carnal experience. Fleeing from Nazism and Communism, Ferdinand possessed three passports: Czech, German and Austrian, and his heart could not help but swing between these three allegiances, to which France was added, acquired during the forty-five years of his life spent in Nice with his wife Edwige von Ballestrem and their children.
He became a federalist through his encounter with Alexandre Marc. In the teaching of the doctrine of federalism that he received, he had found an answer to his two major political and social concerns: that of Europe realising the imperial dream of unity and diversity and that of its incarnation in a freer and fairer society. For he did not correspond to the agreed caricature of the aristocrat as the dominant thought had long since sought to portray: he had a deep and sincere desire for justice and protection of the weakest, which he drew in particular from his practised and assumed Catholic faith, even if it was sometimes dissident. Above all, he wanted to be a personalist, finding in federalism the necessary balance between tradition and modernity, commitment to serving his convictions and surpassing himself in his quest for perfection.

This translated – and all those who approached him, or even better still knew him as a friend, can testify to this – into a set of qualities that we call human and which are affability, modesty, readiness to serve others and also a sense of sacrifice.

Ferdinand was an aristocrat: an aristocrat of the heart and an aristocrat in spirit.

May he rest in peace, he who had known the terrible ordeal of the loss of two of his children but who, in light of his faith, considered death as a rebirth.

Claude Nigoul, Former Director of the Institut européen des hautes études internationales
Novermber 2020